„In jede Richtung Maß halten“

Oderland.news sprach erneut mit René Wilke (Die Linke), Oberbürgermeister der kreisfreien Stadt Frankfurt (Oder).

„In jede Richtung Maß halten“

Georg Langer: Bei Ihrer Rede während der vorigen Stadtverordnetenversammlung sprachen Sie im Zusammenhang mit der Corona-Krise von „einer neuen, einer anderen Normalität“. Begeben sich Politiker, die einen Ausnahmezustand zur Normalität erklären, nicht auf dünnes Eis?

René Wilke: Gemeint ist damit eigentlich, dass wir auf der einen Seite natürlich Schritte in die Rückkehr zu dem, was vorher als normal galt, gehen müssen und auch wollen. Das passiert ja grad auch. Und dass wir gleichzeitig aber bestimmte Beschränkungen wahrscheinlich längere Zeit noch haben werden. Das wird im Wesentlichen sich fokussieren auf die Kontaktbeschränkungen, die jetzt auch schon gelockert wurden. Es wird jetzt, glaub ich, nicht so sein, dass wir in den nächsten Monaten den exakt gleichen Zustand wie vorher haben, sondern eine Rückkehr in eine Normalität, die nicht mehr so weit entfernt ist von dem vorher, und noch mit bestimmten Beschränkungen belastet sein wird. Mundschutz wird ein Thema bleiben an einigen Stellen, also ÖPNV, dass uns das noch eine Weile begleiten wird, und in Geschäften. Das halte ich jetzt nicht für die furchtbare Einschränkung. Mit Verlaub, ich sehe jetzt nicht, dass da irgendwer geknebelt wird, weswegen man jetzt sagt: Das Grundgesetz wird gebrochen oder so.

Für Kritiker der Corona-Maßnahmen finden Sie regelmäßig harte Worte wie „egoistisch“ oder „vermessen“. Sympathisieren Sie nicht mit Forderungen nach Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Recht auf Bildung und Arbeit?

Ich glaube, da liegt ein ganz grundlegendes Missverständnis vor. Ich finde nicht für die Kritiker von den Corona-Maßnahmen harte Worte. Ich hab ja sogar in der Rede deutlich gemacht, dass genau der Diskurs dringend notwendig ist. Ich hab gesagt, dass ich mich darüber freue, dass wir wieder eine Stadtverordnetenversammlung haben, wo genau solche Sachen diskutiert werden, vor aller Augen und Ohren. Ich habe auch gesagt, dass ich diesen respektvollen Diskurs richtig finde. Womit ich ein Riesenproblem habe sind Leute, die sich selbst aufschwingen zu meinen, weil sie mal ein bisschen bei YouTube und Google recherchiert haben, sind sie jetzt klüger sind als Wissenschaftler, die jahrzehntelange Forschungsarbeit geleistet haben. Oder die unterstellen, dass da oben irgendwer gekauft wird, und das alles von irgendwo gesteuert wird. Oder dass die Regierungen aus 195 Staaten unter einer Decke stecken. Oder dass wir als kommunale Ebene mit dem Land und dem Bund heimlich irgendeine Machtübernahme planen, oder irgend so einen kruden Scheiß. Damit hab ich ein Problem. Da grenze ich mich auch ganz klar von ab, weil das halte ich für abstrus. Und dafür finde ich dann auch harte Worte. Das Verständnis hört auch irgendwann auf.

Wenn die Corona-Maßnahmen Ihre Entscheidung wären, statt die von Land und Bund, was würden Sie anders machen?

Ich glaube, dass es für die Menschen wichtig ist zu wissen, dass es eine Art Fahrplan gibt, der sich an Parametern bemisst. Der deswegen auch nachvollziehbar ist. Zum Beispiel, wenn man körpernahe Dienstleistungen zu unterschiedlichen Zeiten öffnet, dann muss man auch erklären, was der Unterschied ist zwischen einem Friseur und einem Kosmetiker. Wenn man über die Schulen spricht, einfach nur sagt: Wahrscheinlich wird es demnächst noch keine komplette Öffnung geben, dann finde ich es wichtig zu sagen: Unser Plan ist, so und so vorzugehen und es an den und den Parametern zu bemessen, zum Beispiel Infektionszahlen, oder bestimmte Auflagen die eingehalten werden können oder nicht. Oder zu sagen, wie in Geschäften zum Beispiel: Eine Person pro 20 Quadratmeter ist infektionswissenschaftlich ein guter Rahmen, und das kann nur abgebildet werden mit so und so viel Schülern in einem Schulgebäude, das so und so groß ist, und das ist für uns die Prämisse. Es wird immer ein vorne und hinten geben, welche zuerst und welche zuletzt kommen, und die werden immer auch unzufrieden sein, die weiter hinten sind. Das ist nun mal so. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, zumindest zu erklären warum, was der Unterschied ist, und von welchen Parametern man das abhängig macht. Das halte ich für wichtig, und da würde ich vermutlich anders mit umgehen. Aber ich habe auch Respekt davor, dass es eine ganz schwierige Entscheidungssituation für alle ist, die jetzt gerade entscheiden müssen.

Jetzt ist unsere Doppelstadt besonders von der Grenzschließung betroffen. Was unternehmen Sie, um dafür zu werben, dass es wieder geöffnet wird?

Wir sind zum einen quasi regelmäßig im Kontakt mit der polnischen Seite, und ich glaube, dass die Slubicer jetzt auch zu einer anderen Haltung gefunden haben. Der Slubicer Bürgermeister hat ja immer die Grenzschließung gefordert. Und jetzt hat er einen Brief an den Marschall geschickt mit der Forderung, einen Plan vorzulegen für die Wiederöffnung. Sie können davon ausgehen, dass wir einen Beitrag geleistet haben, dass es dazu gekommen ist, und einen Beitrag leisten, dass die ersten Öffnungen, die jetzt passieren, auch stattfinden. Darüber hinaus sind wir mit der Landesregierung seitdem das passiert ist in regelmäßigen Treffen. Jeder Kreis hat seine Themen. Es gibt Kreise, die touristische Regionen sind. Die haben vor allem das Thema: Wie gehen wir mit denen um, die uns hier besuchen? Frankfurt (Oder) ist mit seiner Grenzlage und dem Doppelstadtcharakter die Region, die immer das Thema vorantreibt: Wie gehen wir denn damit weiter um, und was können wir da für die Zukunft tun? Was wir jetzt als Thema forcieren, ist die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung. Das haben wir im Handlungsplan erstmals auch schon drin. Der vor kurzem erst beschlossene Frankfurt-Slubicer Handlungsplan, der neue hat erstmals. Wir hatten nur keine Zeit, das umzusetzen, weil dann eben Corona kam. Das Thema wird jetzt an Bedeutung zunehmend gewinnen. Das geht aber nicht ohne Land, auf deutscher und auf polnischer Seite, weil die Rahmenbedingungen natürlich dort herkommen. Und wie ich es in der Rede auch deutlich gemacht habe: Dieses Bewusstsein, dass man nicht einfach so eine Grenze ziehen kann zwischen Frankfurt und Slubice, das müssen wir stärken. Das wird ein langwieriger Prozess.

In derselben Rede warnten Sie vor Panikmache einerseits, warnten aber dann vor tausenden Fällen fürs Krankenhaus und Leichenkühlhäusern in den Straßen. Könnte das nicht als Panikmache aufgefasst werden?

Das habe ich nicht. Ich habe nicht davor gewarnt. Ich habe… Herr Langer, ich muss Sie wirklich bitten, die Rede nicht nur nach dem Filter „Was für ein blöder OB, ich guck jetzt mal, was ich herausfinden kann, um dem einen Strick daraus zu drehen“, sondern dass Sie wirklich die Logik der Rede sich nochmal anschauen und versuchen, nachzuvollziehen. Und vielleicht auch mal eine positive Absicht unterstellen, nicht immer eine negative. Was ich gesagt habe ist, dass ich warne vor Relativierungen, also zu tun, als wenn das hier alles Quatsch ist. Und genau so warne ich davor, zu übertreiben in der Panikmache. Das ist übrigens eine Position, der Sie wahrscheinlich sogar eher wohlgesonnen sind. Ich finde, dass wir da in jede Richtung Maß halten sollten. Was ich dann deutlich gemacht habe ist, dass die Schizophrenie der aktuellen Situation darin besteht, dass wir hier in Frankfurt und in Deutschland nicht so katastrophale Zustände hatten und haben wie an anderen Orten. Dass an diesen Orten, wo die Kühlhäuser standen und stehen, wie in New York, wir eine ganz andere Akzeptanz für die Maßnahmen haben. Wenn Sie sich die Umfragezahlen anschauen, dann sieht das völlig anders aus, weil die das gesehen haben. Es kann doch nicht sein - so habe ich es formuliert - soweit wird es doch nicht um uns gekommen sein, dass das notwendig ist, so etwas zu sehen und zu erleben, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, weder leichtfertig zu sein noch Panik zu entwickeln. Das habe ich in der Rede deutlich gemacht. Und das bitte ich nicht misszuinterpretieren.

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